Utopien

Basisliteratur – auch ältere – zu lesen, ist immer anregend. In den letzten Tagen lief mir dabei folgender Satz über den Weg:

Supervisorische „Verfahren sind weniger an der Umsetzung von Vorschriften und der Erfüllung von Aufträgen interessiert, sondern eher an der Realisierung einer konkreten humanen Utopie.“

(Ferdinand Buer, Lehrbuch der Supervision, Der pragmatisch-psychodramatische Weg der Qualitätsverbesserung professionellen Handelns, Grundlegung – Einstiege – Begriffslexikon (Schriften [aus] der Deutschen Gesellschaft für Supervision Bd. 4), Münster 1999, S.23.)

An diesem Satz bin ich hängen geblieben. Ich habe mich gefragt: Welcher Utopie folge ich eigentlich? Und es ergaben sich für mich Antworten, die sich aus privaten wie beruflichen Zusammenhängen speisen und die sehr persönlich sind.

  1. Hinter vielen (Supervisions-) Themen verbirgt sich Furcht – Furcht vor Konflikten, Furcht vor Missverständnissen, Furcht davor, erkennbar zu werden, Profil zu zeigen, am Ende nicht so gemocht zu werden, wie man ist.

    Meine Utopie ist: Wir leben im Alltag mit weniger Furcht.

    Dafür reicht es nicht, andauernd „Nur Mut!“ zu sagen. Dafür braucht es Vertrauen in die Beziehungen, Vertrauen auch in mich selbst, Vertrauen darauf, dass ein System nicht allein von mir, meinem Handeln, meinem So-Sein abhängt. Vertrauen kann man nicht befehlen; Vertrauen muss wachsen, und das braucht Zeit.
  1. Missverständnisse – dieses Thema spielt in den allermeisten Gesprächen am Anfang eines Beratungsprozesses die Hauptrolle. Falsch gehörte und unrichtig gedeutete Aussagen sind ein Dauerproblem, weil menschliche Kommunikation auf verschiedenen Ebenen stattfindet und nicht eindeutung und nicht störungsfrei ist.

    Meine Utopie ist: Wir kommunizieren miteinander klar und so, dass aus Mehrdeutigkeit Eindeutigkeit wird.

    Dafür braucht es vor allem Verlangsamung. „Was will ich sagen?“ – „Wie sage ich es?“ – Und: „Was habe ich gehört?“ – „Was habe ich verstanden?“ – „Was nicht?“ – „Wo brauche ich noch mehr Informationen?“ Diese Fragen werden im täglichen Miteinander viel zu wenig beachtet, in der Hektik schnell irgend etwas gemacht, aber oft nicht das, was gemeint war, und oft nicht so, wie es gemeint war. Öfter mal nachfragen; das wäre gut. Und: Mut zum eigenen Unverständnis.
  1. Beziehungsabbruch ist die ultimative Drohung in privaten wie beruflichen Zusammenhängen. Dass Schluss gemacht wird, dass gekündigt wird, dass einer nicht mehr mit dem anderen redet – das ist der Super-GAU in allen Beziehungen.

    Meine Utopie ist: Beziehungen werden nicht mehr einseitig beendet.

    Natürlich verändern sich Menschen, und natürlich verändern sich Beziehungen. Da kann es sein, dass wir an einen Punkt kommen, an dem wir sagen (müssen): So passt es nicht mehr. Wenn das einseitig ist, lässt sich daran arbeiten. Wenn das beidseitig ist, lässt sich auch daran arbeiten. Und sei es lediglich, dass der Abschied gestaltet wird. Gemeinsam. Nicht einseitig.

Leben ist Leben-in-Beziehung. Das ist anfällig für Störungen, doch sind die wenigsten Störungen so massiv, dass man nicht damit umgehen könnte. Keine Furcht! Weiter reden! Im Kontakt bleiben! Dann ist schon Vieles auf einem guten Weg.

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